Schattenmensch

Presse:
Der Schatten führt kein Schattendasein: Man kann ihn werfen, ihm nachjagen, über ihn springen, sich in ihm aufhalten und sich vor ihm fürchten – egal, ob als Kurschatten, im Schattenkabinett und beim Schattenboxen.

Wie alles im Leben gibt es Licht- und Schattenseiten. Bei seinem Treffen mit Odysseus seufzte Achilles: „Lieber ein Bettler sein im Reiche des Lichts als ein König im Reiche der Schatten“. Und natürlich die Binsenweisheit, dass es keinen Schatten ohne Licht, ohne Sonnenlicht, gibt.

In der Fotografie spielt der Schatten eine wichtige gestalterische Rolle, um die dreidimensionale Welt auf zweidimensionaler Ebene abbilden zu können. Bei dem Wiesbadener Fotografen Reinhard Berg allerdings ist der Schatten kein kompositorisches Mittel mehr, um Räumlichkeit und Plastizität zu erzeugen. Stattdessen gibt er diesem flüchtigen Phänomen sein Eigenleben zurück, emanzipiert ihn von Licht und Original und akzeptiert ihn als eigene Realität. Woher er kommt, wer sein Ursprung ist, spielt keine Rolle mehr. Auch die bekannten Konnotationen wie der unerreichbare Schattenmann, Schattenwerfer, Schattenwirtschaft etc. interessieren ihn nicht. Dafür geht er zu den Anfängen zurück, die mehr als 30.000 Jahre zurückliegen, als es noch keine Fotografie gab, dafür Graffiti und Höhlenzeichnungen und der Schatten die erste Selbstwahrnehmung der Menschen war.

Kleidung, Farben, der individuelle Ausdruck und relevante Details verschwinden in der gleichförmigen Flächigkeit des Schattens. Im Schatten sind sie nicht sichtbar. Man könnte auch sagen im Schatten sind alle Menschen gleich und unterscheiden sich nur durch die Körperhaltung und Konturen.

Durch diese Form der "Reduktion" ergibt sich für Reinhard Berg der Ansatz für neues, fotografisches Arbeiten, dessen Focus sich vom Äußerlichen, Realistischen hin zum Allgemeingültigen verschiebt.

In der vorliegenden Serie manifestiert sich der Schatten in zwei Varianten. Einmal sind es expressive Schattenfotos hinter Acrylglas mit einer realistischen, dynamischen Motivwahl, zum anderen Fine Art Fotos mit der Anmutung von „Höhlenmalerei“. In allen Arbeiten mit einbezogen sind Überblendungen von Graffitis, Strukturen und Schatten. Oftmals sind bis zu 5 Bilder, die in der Nachbearbeitung übereinandergelegt werden. Selbst für das geübte Auge ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, was fotografiert und was gemalt sein könnte.

Reinhard Berg hat sich mit diesen und anderen aktuell entstandenen Bildern bewusst von der dokumentarischen Fotografie entfernt, die lange Jahre sein Brotberuf war, und sich für die künstlerische Darstellung entschieden.
Sein Medium ist nach wie vor die Fotografie, sein Werkzeug die Kamera, doch hat er mit diesen Werken Grenzen verwischt und Eindeutigkeiten aufgelöst.
Es bleibt spannend, wohin ihn dieser Weg führt.

Tobias Mahlow, media futura, Redaktion WIESBADENER*IN, ‚Ausgabe I/2022